Schweizer. Geschichtstage

Lebensreform und alternative Lebensstile im 20. Jahrhundert:

Gegenmächte im Alltagsleben

 

Samstag, 11. Juni 2016

13:45 bis 15:15 Uhr

Université de Lausanne, Raum 2060

 

Sexualmoral, Familienmodelle, Ernährungsgewohnheiten, Arbeitsethos oder Konsumverhalten – Normen, Werte und Sitten werden laufend bewertet, hinterfragt und neu bestimmt. Ein Blick auf diese Aushandlungsprozesse verrät viel über die Machtverhältnisse in Gesellschaften. Bis ins 19. Jahrhundert diktierten wenige Akteure aus Staat, Kirche und Gesellschaft die Regeln des Zusammenlebens. Mit dem Bedeutungsgewinn der Medien, sozialen Bewegungen und Akteuren aus der Zivilgesellschaft erfolgte eine Pluralisierung des gesellschaftlichen Aushandlungsprozesses. Zu den neuen (Gegen-)Mächten gehörten auch jene Gruppen, Bünde und Milieus, die unter dem Begriff „Lebensreform“ summiert werden. Mit ihren Forderungen nach einer Veränderung der Ernährung, Erziehung, Sexualität, Medizin, Wohnformen oder Freizeitbeschäftigungen stellten sie sich gegen geltende Gewissheiten, Verhaltensregeln und Lebensweisen.

Durch den oftmals geringen Organisationsgrad und den individualistisch-selbstreformerischen Ansatz lassen sich lebensreformerische Praktiken als niederschwellige Formen der alltäglichen Opposition gegenüber etablierten Mächten und deren Wertvorstellungen beschreiben. Der Verzicht auf Fleisch, Alkohol und Nikotin, der Konsum biologischer Nahrungsmittel, alternative oder komplementäre Formen der Gesundheitsbehandlung, fernöstliche und neureligiöse Spiritualität oder das Tragen von Reformkleidung lassen sich mit wenig Aufwand in das alltägliche Leben integrieren. Dazu sind keine mächtigen Organisationen, Parteien oder Interessensgruppen nötig. Trotzdem können solche Praktiken nachhaltigen Einfluss auf die Gestalt einer Gesellschaft ausüben.

Das Panel fragt nach den Räumen, in denen lebensreformerische Akteure alternative Lebensstile verhandelten und erprobten, den gesellschaftlichen Widerständen, mit denen sie zu kämpfen hatten und den Prozessen, durch die marginalisiertes Wissen in die Mitte der Gesellschaft vordringen konnte und damit den gesellschaftlichen Wandel beschleunigte. Obwohl lebensreformerische Konzepte und Praktiken oft belächelt, manchmal scharf kritisiert und zum Teil auch juristisch verfolgt wurden, haben sie sich im 20. Jahrhundert von Randphänomenen zu wirkungsvollen Alltagspraktiken entwickelt, die heute starken Einfluss auf die Gesellschaft ausüben. Alternative Lebensstile wie sie durch lebensreformerische Akteure geprägt wurden, sind heute nicht mehr Opposition, sondern selbstverständlicher Bestandteil der Gesellschaft.

 

Referate

  • Stefan Rindlisbacher : „Nacktheit ist sittlich“ – Entstehung, Konflikte und Etablierung der Freikörperkultur in der Schweiz (1900-1930) (mehr Informationen...)
  • Eva Locher : „Auf die verschiedensten Arten will man die Welt verbessern“ – Lebensreformerische Gesellschaftsveränderung in den 1960er und 1970er Jahren (mehr Informationen...)
  • Philipp Karschuck: Komplementärmedizin in der Palliative Care. Anthroposophische Sterbebegleitung seit den 1980er und 1990er Jahren (mehr Informationen...)

 

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