Panel am Historiker*innentag

Panel: Dynamiken der Selbst- und Fremdbestimmung. Die Lebensreform um 1900 zwischen Körperkult und autoritärer Kontrolle

Universität Bonn, Schlosskirche
Nicht erst die Querdenker-Bewegung während der Corona-Pandemie zeigte das Konfliktpotential, das im Zugriff staatlicher (Gesundheits-)Politik auf den Körper liegt. Mit ihrer plakativen Alternativkultur, ihrer Kritik an der modernen Gesellschaft und ihrer zugleich äußerst modernen Sorge um das Individuum steht die Lebensreform wie kaum eine andere Bewegung für die Widersprüchlichkeit ihrer Epoche.

Doch ob sie nun als gefühlsbetonte Gegenbewegung gegen die Aufklärung, als Korrektiv einer umweltzerstörerischen Industrialisierung oder als Vorbote einer postmodernen Kultur der Selbstverwirklichung gedeutet wird: Stets wurden in den gegenkulturellen Impulsen der Lebensreform nicht nur ein adäquates Wissen von und ein anderes Verhältnis zur Natur verhandelt, sondern auch Machtverhältnisse. In Entwürfen alternativen Zusammenlebens prägten sich autoritäre Formen der Reglementierung aus, im Arzt-Patienten-Verhältnis der modernen Medizin wurde die individuelle Handlungsfähigkeit verhandelt und in die Empfehlungen zu individuellen Ernährungspraktiken schlichen sich rassistische Vorstellungen von Biopolitik ein.

In der Sektion fragen wir nach den Machtdynamiken der Lebensreform der Jahrhundertwende. Mit Blick auf verschiedene Aspekte soll gefragt werden, aus welcher Konfliktkonstellation die Bewegung entstand, welche Akteure diese trugen und welche Effekte für die politische Kultur sie mit sich brachten. Dabei soll auch diskutiert werden, welche paradoxen Entwicklungen aus einer Bewegung entstanden, die zunächst die Gesellschaft natürlicher gestalten wollte. Ähnlich wie die Querdenker stellte die Lebensreform eine politisch vielfältige Bewegung dar, die ihrem Anspruch nach Freiheit und Selbstbestimmung propagierte, aber zugleich autoritär organisierten und völkisch ausgerichteten Gruppen eine Heimat bot.

  • Birgit Aschmann (Berlin): Charisma und Gefolgschaft. Zu Attraktivität und Autorität der Kommunen des „Urvaters der Alternativbewegungen“ Karl Wilhelm Diefenbach
  • Johannes Bosch (Heidelberg): Medizinisches Gegenwissen und Selbstsorge in Lebensreform-Ratgeber
  • Stefan Rindlisbacher (Fribourg): Selbstpraktiken und politische Agitation. Dynamiken der Lebensreform und die extreme Rechte
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Buchvernissage im Sozialarchiv

Mittwoch, 12.03.2025, 19.00 Uhr

Buchpräsentation und Podiumsgespräch: Alternativ leben: Natürlich, gesund, autoritär?

Schweizerisches Sozialarchiv, Stadelhoferstrasse 12, 8001 Zürich

Medienraum

 

In einer durch Digitalisierung, Klimawandel und Pandemien verunsicherten Welt versuchen immer mehr Menschen, wieder natürlicher, lokaler und gesünder zu leben. Dabei greifen sie oft auf Ideen und Praktiken der Lebensreform um 1900 zurück. Stefan Rindlisbacher, Eva Locher und Damir Skenderovic werfen in ihrem Sammelband einen neuen Blick auf die Geschichte dieser Alternativbewegung avant la lettre: Im Fokus stehen transnationale Netzwerke, koloniale Verstrickungen und Missbrauchsvorwürfe.

Im anschliessenden Podiumsgespräch kommen auch die Nachwirkungen der Lebensreform zur Sprache. Insbesondere wird diskutiert, inwieweit alternative Ernährungsweisen, biologischer Landbau, Naturheilkunde oder Reformpädagogik bis heute auch autoritäre und ausgrenzende Züge aufweisen können. Aktuell zeigen sich diese beispielsweise in Teilen der Post-Corona-Bewegung, in völkisch-esoterischen Siedlungsprojekten oder in rechtsalternativen Schulgründungen.

 

Buchpräsentation mit Eva Locher (Historikerin, Universität Bern) und Podiumsgespräch mit Stefan Rindlisbacher (Historiker, Universität Fribourg), Julia Sulzmann (Psychologin, Relinfo), Sarah Schmalz (Journalistin, WOZ). Moderation: Damir Skenderovic (Historiker, Universität Fribourg)

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Neuer Sammelband Lebensreform

Unser Sammelband Transnational, Kolonial, Aktuell - Neue Perspektiven auf die Geschichte der Lebensreform ist im Schwabe Verlag erschienen. Herausgeber: Stefan Rindlisbacher, Eva Locher, Damir Skenderovic

 

Vegetarismus, Naturheilkunde, Körperkultur – Ideen und Praktiken aus der Lebensreform sind heute so verbreitet wie nie zuvor. In einer durch Digitalisierung, Klimawandel und Pandemien verunsicherten Welt gewinnen sie zusehends an Resonanz und Relevanz. Seit einigen Jahren steigt deshalb auch das Interesse an der Geschichte der Lebensreform. Der Sammelband rekapituliert die Forschungshistorie und präsentiert neue Fragestellungen und methodische Zugänge. Die Lebensreform wird erstens als transnationales Projekt beschrieben, das weit über Deutschland hinauswirkte. Zweitens werden Sexualitäten, sexuelle Missbräuche und Geschlechtervorstellungen in lebensreformerischen Kreisen in den Blick genommen. Aus einer postkolonialen Perspektive werden drittens die Verstrickungen der Lebensreform in den europäischen Kolonialismus untersucht.

 

Die Open-Access-Version ist gratis zum Download erhältlich: www.doi.org/10.24894/978-3-7965-5214-4

Das gedruckte Buch ist beim Schwabe Verlag erhältlich: https://schwabe.ch/transnational-kolonial-aktuell-978-3-7965-5212-0

 

Exkursion nach Bled

Diesen Sommer unternahm die Abteilung Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte der Universität Bern eine einwöchige Studienreise nach Slowenien. Die Reise führte unter anderem in den nordwestlich von Ljubljana gelegenen Kurort Bled. Dort hatte sich bereits in der k.u.k.-Monarchie eine frühe Form des Wellnesstourismus herausgebildet. Zu den wichtigsten Pionieren dieser Entwicklung gehörte ein Schweizer Unternehmer und Lebensreformer aus Wangen an der Aare: Arnold Rikli eröffnete 1855 in dem für seine Mineralquellen bekannten Städtchen eine Kuranstalt für naturheilkundliche Wasseranwendungen. Berühmt wurde er jedoch für seine Licht-, Luft- und Sonnenkuren, die er ab den 1860er Jahren anbot. Rikli ging davon aus, dass der Reiz durch den direkten Kontakt des Körpers mit frischer Luft und Sonne einen "natürlichen" Heilungsprozess in Gang setzt. Dass die Gäste dafür möglichst unbekleidet sein sollten, stiess nicht überall auf Begeisterung. Dennoch verbreiteten sich seine Behandlungsmethoden bis zum Ende des Jahrhunderts in zahlreichen Naturheilanstalten in Europa und Nordamerika. So zum Beispiel im Sanatorium von Heinrich Lahmann im Dresdner Vorort Weißer Hirsch oder in John Harvey Kelloggs Battle Creek Sanatorium bei Chicago. Auch die Gründer des Monte Verità in Ascona, Ida Hofmann, Henri Oedenkoven und Karl Gräser, sollen sich bei einem Kuraufenthalt in Riklis Naturheilanstalt kennen gelernt haben. Später galt Rikli auch als wichtiger Wegbereiter der Freikörperkultur-Bewegung, die sich nach 1900 auszubreiten begann.

Getreu seinem Motto „Wasser tut’s freilich, höher jedoch steht die Luft und am höchsten das Licht“ baute Rikli in Bled ein modernes Kurhaus. Damit seine Gäste nackt in der Sonne liegen konnten, liess er sogenannte Lichtbäder errichten. Darüber hinaus ermöglichten zum See hin offene Lufthütten einen ständigen Aufenthalt im Freien. Diese Anlage sowie das grosszügige Kurhaus direkt am malerischen Bleder See sind heute nicht mehr erhalten. Die Ruine seiner Villa kann jedoch besichtigt werden. Sie liegt nur wenige Schritte von der Belder Promenade und dem Restaurant Kavarna Park entfernt, in dem die berühmte Bleder Cremeschnitte serviert wird. - Einen Vorläufer dieser Spezialität soll Rikli aus seiner Berner Heimat mitgebracht haben.

Mehrere Strassennamen, ein Wanderweg und ein Denkmal auf dem Hügel Straža erinnern in Bled noch heute an den Tourismuspionier Rikli. In jüngster Zeit besinnt sich die Stadt wieder vermehrt auf den Schweizer Lebensreformer. Dies ist sicher auch ein Verdienst von Vojko Zavodnik, der seit vielen Jahren auf das Erbe Arnold Riklis aufmerksam macht. Inzwischen bieten sogar einige luxuriöse Wellnesshotels wieder Rikli-Kuren mit historischen Behandlungsmethoden an. Und auch Riklis Heimatgemeinde Wangen an der Aare pflegt seit einigen Jahren Kontakte zu dem slowenischen Kurort.

Unsere Reise führte uns nach der Besichtigung der Rikli-Villa rund um den Bleder See, wo sich das Wetter leider nicht von seiner besten Seite zeigte. Und doch lässt der Blick über die Landschaft erahnen, warum es den Schweizer Lebensreformer Mitte des 19. Jahrhunderts gerade nach Bled verschlagen hatte.

Archivtagung Ludwigstein

Jahrestagung des Archivs der deutschen Jugendbewegung vom 25. bis 27. Oktober 2024

„Der Globus quietscht und eiert“. Jugend- und Lebensreformbewegungen inter- und transnational

Veranstaltet für den Wissenschaftlichen Beirat des Archivs der deutschen Jugendbewegung durch Prof. Dr. Carola Dietze und Dr. Susanne Rappe-Weber

 

Diese Tagung ist erstmals den Ausprägungen der Jugend- und Lebensreformbewegung in verschiedenen Ländern und Regionen weltweit gewidmet. Den Auftakt bildet der indische Subkontinent. Dieser ist als Bezugspunkt sowohl für die vegetarische Bewegung im deutschsprachigen Raum als auch für den Kampf gegen Kolonialherrschaft im Berlin der 1920er Jahre von hoher Bedeutung. In Osteuropa kommt zunächst der Vegetarismus im späten Zarenreich in den Blick. Sodann widmen wir uns den Reformanliegen, die in katholischen Milieus in Litauen im Mittelpunkt der Diskussion standen, und zwar im Vergleich zu den Reforminteressen in vergleichbaren katholischen Gruppen in Deutschland und im französischsprachigen Teil Kanadas. Zwei Vorträge werden sich utopischen Gemeinschaften in den USA widmen. Sie stellen solche Gemeinschaften in Nordamerika vor und gehen unter anderem der Frage nach, ob diese mit lebensreformerisch geprägten Gemeinschaften im deutschsprachigen Raum vergleichbar sind und ob es über den Atlantik hinweg einen Austausch zwischen solchen Gemeinschaften gab. Ein weiteres wichtiges Thema sind die kolonialen Verstrickungen europäischer Lebensreformer sowie die Vorbildfunktion, die kolonisierte Völker Afrikas für Hans Paasche hatte. Schließlich werden wir uns grundsätzlich den Veränderungen der Lebens-Begriffe in Philosophie und Wissenschaft um 1900 widmen sowie den vielfältigen Beziehungen zwischen Lebensreform, Naturschutz und neuen Wegen in der Medizin. Die Vortragenden sind international ausgewiesene Wissenschaftler:innen, die ihre Forschungen aus unterschiedlichen nationalen Zusammenhängen und Blickwinkeln vorstellen.

 

Samstag, 26. Oktober, 16 Uhr: Stefan Rindlisbacher & Damir Skenderovic: Koloniale Verstrickungen der Lebensreform - Reisen, Expeditionen, Imaginationen

 

Hier geht es zu Webseite des Archivs der deutschen Jugendbewegung...

Hier gibt es das Anmeldeformular für die Tagung...

 

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Konferenz "Fasten"

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Beitrag "Deutsche Biographie"

In der Online-Ausgabe der "Deutschen Biographie" ist mein Beitrag zu Arnold Rikli erschienen.

 

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Artikel: "Spanische Grippe"

Im transcript Verlag ist der Sammelband "Wissenskrisen – Krisenwissen: Zum Umgang mit Krisenzuständen in und durch Wissenschaft und Technik" mit meinem Artikel "Rohkost und heiße Bäder gegen die 'Spanische Grippe'? Wissenskrise und Deutungskampf in der Pandemie" erschienen (Open Access eBook). Ich gehe darin der Frage nach, wie die Lebensreformbewegung auf die Grippevirus-Pandemie von 1918/19 (sogenannte Spanische Grippe) reagierte. Dabei zeigen sich viele Parallelen zu den Protesten gegen die Coronaviruspolitk der letzten Jahre: Das Tragen von Masken, Versammlungsverbote und die Entwicklung einer Impfung wurden abgelehnt. Stattdessen sollte jede/r Einzelne die eigene Gesundheit und Abwehrkräfte mit vegetarischer Ernährung, Naturheilanwendungen und Körperpflege stärken. Die Lebensreformbewegung verlangte damit wie zuletzt die sogenannte Querdenken-Bewegung eine Individualisierung bzw. Dezentralisierung und damit Entsolidarisierung der Pandemiebewältigung.