Panel am Historiker*innentag
Panel: Dynamiken der Selbst- und Fremdbestimmung. Die Lebensreform um 1900 zwischen Körperkult und autoritärer Kontrolle
Doch ob sie nun als gefühlsbetonte Gegenbewegung gegen die Aufklärung, als Korrektiv einer umweltzerstörerischen Industrialisierung oder als Vorbote einer postmodernen Kultur der Selbstverwirklichung gedeutet wird: Stets wurden in den gegenkulturellen Impulsen der Lebensreform nicht nur ein adäquates Wissen von und ein anderes Verhältnis zur Natur verhandelt, sondern auch Machtverhältnisse. In Entwürfen alternativen Zusammenlebens prägten sich autoritäre Formen der Reglementierung aus, im Arzt-Patienten-Verhältnis der modernen Medizin wurde die individuelle Handlungsfähigkeit verhandelt und in die Empfehlungen zu individuellen Ernährungspraktiken schlichen sich rassistische Vorstellungen von Biopolitik ein.
In der Sektion fragen wir nach den Machtdynamiken der Lebensreform der Jahrhundertwende. Mit Blick auf verschiedene Aspekte soll gefragt werden, aus welcher Konfliktkonstellation die Bewegung entstand, welche Akteure diese trugen und welche Effekte für die politische Kultur sie mit sich brachten. Dabei soll auch diskutiert werden, welche paradoxen Entwicklungen aus einer Bewegung entstanden, die zunächst die Gesellschaft natürlicher gestalten wollte. Ähnlich wie die Querdenker stellte die Lebensreform eine politisch vielfältige Bewegung dar, die ihrem Anspruch nach Freiheit und Selbstbestimmung propagierte, aber zugleich autoritär organisierten und völkisch ausgerichteten Gruppen eine Heimat bot.
- Birgit Aschmann (Berlin): Charisma und Gefolgschaft. Zu Attraktivität und Autorität der Kommunen des „Urvaters der Alternativbewegungen“ Karl Wilhelm Diefenbach
- Johannes Bosch (Heidelberg): Medizinisches Gegenwissen und Selbstsorge in Lebensreform-Ratgeber
- Stefan Rindlisbacher (Fribourg): Selbstpraktiken und politische Agitation. Dynamiken der Lebensreform und die extreme Rechte